Über das Putzen von Stolpersteinen –
eine Reflexion über das Erinnern
von
Leonie R. Anlauf
Gasthausstraße 18:
Paul Becker
Gasthausstraße 12:
Gert Alexander
Henriette Alexander
Gasthausstraße 8:
Simon Bacharach
Lina Bacharach
Albert Bacharach
Walther Bacharach
Sibille Winter
Bertha Winter
Gertrude Leven
Weiherstraße 14:
Efroim „Franz“ Mazewski
Baila „Berta“ Mazewski
Jozef „Josef“ Mazewski
Ruth Mazewski
Weiherstraße 27:
Heinz Berthold Fürst
Edith Fürst
Weiherstraße 42:
Siegfried Willner
Auguste Willner
Eddie Helmut Willner
Ich kenne leider nicht alle Geschichten dieser Menschen. Um ehrlich zu sein, habe ich mir nicht einmal alle ihre Namen gemerkt. Und dabei gab es noch mehr Menschen, ihre Namen vergessen, viele gar nicht erst erwähnt. Die Namen der Menschen, die Sie gelesen haben, sind Namen von Menschen, die dem Nationalsozialismus zum Opfer gefallen sind. Es sind Namen von Menschen, die dafür deportiert, gefoltert, ermordet – ja, vernichtet wurden für das, woran sie glaubten, woher sie kamen, schlichtweg dafür, wer sie waren.
Die Namen dieser Menschen stehen auf Stolpersteinen geschrieben. Das heißt auf etwa 10 x 10 cm großen Messingquadraten, die in den Boden eingelassen sind, dort, wo diese Menschen gelebt haben, bevor ihnen Schreckliches widerfuhr. Vielleicht sind Sie schon einmal an solchen Steinen vorbeigekommen, sind vielleicht im Sinne des Erfinders – des Künstlers, Günter Demnig, – gedanklich über sie „gestolpert“. Vielleicht haben Sie sie auch am Abend des Gedenktages der Reichspogromnacht neben den Teelichtern blitzen sehen. Wir haben sie geputzt. Zumindest jene der oben aufgezeigten Personen.
Das lief in etwa so ab:
Vor etwa drei Wochen kündigte Frau Deerberg, unsere Religionslehrerin an, dass wir Stolpersteine putzen würden. In Kooperation mit dem ebenfalls von ihr unterrichteten Hebräisch Kurs unserer Schule. Alle waren überzeugt, dass es eine gute Idee war, wir recherchierten die Biografien der uns zugeteilten Steine, lasen uns teilweise sogar eine Putzanleitung durch, um ja nichts falsch zu machen. Und eine Woche später kamen wir alle gut ausgerüstet mit Schwämmen, Lappen und Putzmittel von Frau Deerberg an der Schule zusammen – mit einem leider krankheitsbedingt nicht ganz vollständigen Relikurs und auch den Hebräisch Schülern, von denen einige extra von der Marienschule kamen. Dann ging es ans Putzen. Dabei könnte ich nun die Putzaktion selber in ein glorreiches Licht rücken, indem ich schrieb: Und so gingen wir die 49 Stufen vom Münster herunter und machten uns auf die Suche nach der Gasthausstraße 8, um unserer ehrenvollen Aufgabe entgegen zu treten… Aber machen wir uns nichts vor. Sonderlich spektakulär ist die Reinigung von Dingen nicht. Das haben wir sicherlich alle schon einmal erfahren. Es ging in etwa so: Schwämme. Essiglösung. Wasser. Messingreiniger. Einwirken lassen. Erneut Wasser. Erneut Messingreiniger. Ein letztes Mal Wasser. Trockene Politur. Und dann glänzten sie. Schön.
Der Putzprozess
Abgesehen davon passierte auch noch folgendes: Als einer unserer Mitschüler gerade fertig war mit der Reinigung kam eine Postbotin angefahren und stellte ihr Fahrrad genau auf den Stolperstein. Nicht etwa ein paar Zentimeter daneben. Genau auf den Stein. Ein kleiner Lacher für uns alle, weil er dann noch mal komplett von vorne anfangen musste.
Später passierte vergleichbar ärgerliches, als wir versuchten uns gegenseitig die Einzelschicksale zu präsentieren und somit der Geschichte der Menschen zumindest ansatzweise eine Stimme zu geben und wir sowohl von einer putzenden Straßenpflegerin, als auch von der Müllabfuhr und einem rückwärtsfahrenden LKW unterbrochen wurden und dann auch noch zeittechnische Probleme hatten. Und doch war man in gewisser Weise auch mit Stolz erfüllt, als man die Steine glänzen sah. War glücklich, dass nun auch Menschen sie von weitem blitzen sehen würden. Auch war das Putzen von einer gewissen Genugtuung begleitet und man wollte sein allerbestes geben, damit die Steine schön aussehen, aber letztendlich war es nicht spektakulär. Und doch denken wir, dass es so wäre. Dennoch sitze ich hier und schreibe diesen Text. Denn natürlich geht es hierbei darum, wofür die Aufgabe selber steht. Und darum, wieso wir es machen. Stichwort: Erinnerungskultur.
Selbstverständlich fügte sich die Reinigung thematisch ganz gut in beide Kurse ein – für den Hebräisch Kurs ein eher kultureller Aspekt, für uns aus dem Relikurs ein kleiner Denkanstoß zur Theodizee-Frage, denn was ist größeres Leid als der Holocaust? Aber Stolpersteine kann eigentlich jeder putzen. Dieses Thema betrifft uns alle.
Manchmal denke ich, dass es Dinge gibt, die so offensichtlich sind, dass sie nicht immer wieder gesagt werden müssen. Wie etwa der Satz: „Diese Geschichte darf sich nie wiederholen.“ Und dann schrecke ich zurück. Ich schrecke zurück sowie ich erkenne, dass es eben dieser Gedanke ist, der uns heute zum Verhängnis wird. Das Bewusstsein über Hass und antisemitische Tradition in Deutschland als Selbstverständlichkeit zu nehmen. Für manche Menschen ist es keine Selbstverständlichkeit an die Opfer zu erinnern, weiter darüber zu lesen, niemals abzuschließen damit. So zitiere ich eine Bekannte im Bezug auf den KZ Besuch auf unserer Studienfahrt: „Muss das denn immer noch sein?“ – Ja, es muss sein. Es wird sogar immer wichtiger. Die Zeitzeugen, sie sterben aus. Vor unseren Augen sterben sie weg. Die unmittelbare Berührung mit dem Thema wird immer weniger. Vor allem für uns, die doch bereits dritte Nachkriegsgeneration. Wir haben keine Großeltern, die wir fragen können, wie das damals so war. Wieso es so war. Warum man nichts getan hat. Wir können in absehbarer Zeit auch überhaupt niemandem unmittelbar betroffenen diese Fragen stellen. Das macht mich teilweise verrückt. Denn persönlich möchte ich doch die Opfer selber hören, ich möchte versuchen ihren Schmerz wie meinen zu empfinden, möchte wissen wie sie das alles wahrgenommen haben. Jetzt ist noch die Chance und das ist gut. Aber ich bin Schriftstellerin. Ich möchte schreiben, um so ein Thema Menschen nahe zu bringen. Aber dann bin ich nur eine Person, die über die Opfer schreibt. Das Thema wird sich immer weiter von uns weg bewegen, je mehr Zeit vergeht. Und ich bemerke wie es in unserer Altersgruppe mehr und mehr zu einer Selbstverständlichkeit, nicht unbedingt im guten Sinne, sondern eher noch zu einer Nebensächlichkeit wird. Wobei ich dem Einwand einer Mitschülerin zustimmen muss, dass es durch diese wachsende Distanz zunehmend schwieriger wird, sich zu erinnern. Für uns ist es ein aktives Erinnern. Jedes Mal ein aktives Befassen. Und es ist kräftezehrend und anstrengend und man möchte vielleicht irgendwann mal damit fertig sein – was irgendwo nachzuvollziehen ist, weil es so sehr an den Nerven zerrt. Man auch gar nicht schuldig sein will, man kein schlechtes Gewissen haben will, das man gar nicht loswerden kann. Aber es muss sein. Die Debatte muss immer wieder geführt werden. Es muss immer wieder an die Opfer erinnert werden, weil wir im Nationalsozialismus das Ausmaß des menschlichen Grauens sehen. Das, wozu wir – oder zumindest unsere Art – imstande wären. Und das ist ein Grauen, das wie ich lernte, unbegreiflich zu sein scheint. So zitiere ich aus einem von mir selbst verfassten Gedicht:
Begreifen tu ich das je?
Was wenn Begreifen einfach unmöglich?
Ich menschliche Natur niemals versteh‘?
Das grausame Grauen, es scheint mir unendlich
Zu unendlich groß, um es je zu begreifen, je zu versteh’n
Also tu ich es nicht.
Weiß nur, nein glaube zu wissen:
Thomas Hobbes hatte recht.
Weiß nur, nein glaube zu wissen:
das schlimmste, das Menschengeschlecht.
Denn Mensch sei Krone der Schöpfung,
aber Macht des Menschen, keine Grenzen
und Macht fehlplatziert.
Das schlimmste, das Menschengeschlecht.
Und mit diesem Fazit ist völlig klar, dass das, wozu wir im Stande wären, dieses grausame Grauen uns alle etwas angeht. Für immer. Also immer weiterlesen. Nie aufhören nachzudenken. Hinterfragen. Wachsam bleiben. Und erinnern.
Denn: „Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“
Deshalb ist Erinnern so wichtig. Im Geschichtsunterricht, in der Prosa im Deutschunterricht, aber auch außerhalb der Schule, jeden Tag. Ein Tag wie der des Reichspogroms erinnert uns, uns zu erinnern. Das Thema bleibt immer aktuell. Und Stolpersteine – sie sind das ganze Jahr über da. Sie sind immer kleine Anstupser. Und ich kann jedem nur ans Herz legen zwischendurch mal stehen zu bleiben, die Namen zu lesen und sich zu erinnern. An die Opfer, aber auch daran, wie es überhaupt erst dazu kommen konnte. Auch das Lesen eines Namens oder des Schriftzugs „Schicksal unbekannt“ (Jozef „Josef“ Mazewski) kann uns Schreckliches vor Augen führen.
Und zum Schluss – um in diesem Text auch den Opfern eine Stimme zu geben – hier ein Gedicht gegen das Vergessen. Weil Namen zwar das sind, was bleibt und uns erinnern lässt, aber gleichermaßen anonym wie persönlich sind, wohingegen Lyrik eine Geschichte erzählt. Ganz persönliche Eindrücke blicken lässt. Unter die Haut geht:
Allein
Da lieg ich auf dem kalten Boden
ganz einsam in der Nacht.
Hab‘ nicht gegessen, nichts getrunken,
immer nur nachgedacht.
Die Brüder erschossen, die Schwester verloren –
darum bin ich allein in der Nacht,
denn der Vater ist von der Gestapo geholt.
Drei Pogrome sind schon gemacht.
Der Tod hat alle mir genommen,
nur mich ließ er zurück.
Deshalb liege ich auf der Erde
und bewein‘ mein Geschick.
Hat mich denn ein Stein geboren,
keiner Mutter Schoß?
Muss ich diese Zeit erleben,
tragen so ein Los?
Habe doch ein Heim gehabt und satt zu essen,
Geschwister, Wärme und viel Licht.
Heut lieg ich hier auf kalter Erde
und mache ein Gedicht.
Brüder und Schwester, wo seid ihr jetzt nur?
Wo ruht denn euer Gebein?
Es ist kalt und schwer, so zu leben,
drum lieg ich und wein.
~ Eisik Fleischer, 13 Jahre (Entstehungsort unbekannt)
Offizielle Seite Stolpersteine:
Stolpersteine Mönchengladbach:
https://www.moenchengladbach.de/de/stolpersteine
Geoportal Mönchengladbach (hier kann man auch über die Einzelschicksale lesen):
https://geoportal.moenchengladbach.de/geo/resources/apps/Stolpersteine/index.html?lang=de
Gedicht „Allein“, entnommen aus „Lyrik gegen das Vergessen“, zusammengetragen von Michael Moll